Thomas Christoph Heyde by Steffi Loos

donaueschingen.org | donauwelle.org

Erstellungsdatum: 2002

Protestaktion | kreative Intervention

Der Artikel beschreibt die Protestaktion und kreative Intervention von Thomas Chr. Heyde und Pèter Köszeghy, die sich gegen den künstlerischen Stillstand innerhalb der Institutionen der Neuen Musik richtete. Die dazugehörige Website donaueschingen.org, die zeitweise von den Künstlern übernommen wurde und als Dikursplattform diente, musste nach Klageandrohung der Stadt Donaueschingen auf die Seite Donauwelle.org umziehen. Die originalen Webseite ist im Internet-Archiv zu finden: donauwelle.org (Stand: 12.02.2002, Stand: 30.08.2005). Die Künstler erklärten die Aktion 2003 für beendet, die Website blieb noch bis 2005 online.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde der NEUEN Musik,

nach den diesjährigen „Donaueschinger Tagen für Neue Musik“ haben nicht nur die Kritiker in Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften bestürzt festgestellt, dass der Neuen Musik das „Neue“ scheinbar abhanden gekommen ist. Allerdings wurden die Gründe mit „es gibt einfach nichts Neues mehr“, wie zumeist zu lesen war, wohl nur sehr unzureichend beschrieben. Es gibt selbstverständlich „Neues“ und selbstverständlich machen sich gerade junge Komponist(inn)en Gedanken, die überhaupt nicht nach Mainstream, „alles schon gehört“ oder mangelnden Visionen klingen. Nur: haben diese Komponisten in Donaueschingen und auf anderen Festivals eine Stimme? Nein! Zu keinem Zeitpunkt hat man sich so ausgeruht, so zurückgelehnt. Zu keinem Zeitpunkt war man so träge, nach neuen Werken und neuen Komponist(inn)en zu suchen. Die Schuld hier den jungen Komponist(inn)en anzulasten ist geradezu infam.
Deshalb haben wir uns entschlossen zu protestieren: Wenn wir teilweise oder ganz mit dem im Anhang beiliegenden Schreiben auch ihre Meinung wiedergeben, dann

-unterschreiben auch Sie, indem Sie dieses Schreiben an eine der unten angegebenen Adressen/Emailadressen zurücksenden (die Unterschriften werden gesammelt, veröffentlicht und an Presse, Ensembles, Festivals, Verlage etc. weitergeleitet) und/oder
-senden Sie dieses Schreiben weiter an Personen und/oder Institutionen, die diese Thematik betrifft und/oder
-machen Sie Vorschläge zum Thema, schicken Sie Anregungen, Kritiken.

Wir sind an einem kritischen Diskurs zum Thema interessiert. Unterstützen Sie dieses Anliegen, denn es geht darum Neues zu entdecken und nicht wie erstarrt zu verharren.

Offener Brief

„Donaueschingen in der Kritik“

Mit Besorgnis, Verärgerung und Bestürzung haben die unterzeichnenden Komponisten, die anlässlich der diesjährigen Donaueschinger Musiktage geäußerte breite Kritik zur Kenntnis genommen, es gäbe in der Neuen Musik keine interessanten Köpfe und Tendenzen mehr und gerade die jungen Komponisten hätten nichts mehr zu sagen.

Die Komponisten sind so interessant wie ihre Gesellschaft, es sei denn, sie zeigen sich visionär, widerständig oder widerspenstig – Faktoren, die sich die meisten Kritiker dieses Großereignisses für Neue Musik ja ausdrücklich wünschen. Doch wo sind die Widerspenstigen, die Visionäre? Gibt es sie tatsächlich nicht, oder sind festgefahrene Strukturen von Festivals, Verlagen, Ensembles/Orchestern und sonstigen Fördereinrichtungen nur nicht in der Lage, diese Strukturen zu erkennen. Oder steckt gar Trägheit hinter dieser Sprachlosigkeit? Müssten nicht Programm- und Festivaldirektoren die Innovation da suchen, wo sie stattfindet oder sind die Ängste und persönlichen Verbindungen, die sich hinter den Strukturen verbergen so groß, dass man lieber das Verstummen in Kauf nimmt.

Auch Donaueschingen und andere vergleichsweise hochsubventionierte Festival müssen sich bei all ihrer nicht in Frage zu stellenden Bedeutung und Verdienste die Frage nach ihrer Position und Aufgabe stellen, ob sie noch ein Sprachrohr neuer Tendenzen sein oder sich in Selbstgefälligkeit und Selbstbespiegelung ergehen wollen. Denn längst sehen es gerade junge Komponisten nicht mehr als zwangsläufig an, dass Perspektiven und Tendenzen durch z.B. Donaueschingen repräsentiert werden.

Es ist nicht so, dass es keine zeitrelevanten Inhalte mehr gibt, die als Kompositionen ihren Ausdruck finden, aber man kann nicht erwarten, dass diese von Schülern oder Epigonen der derzeit entscheidungstragenden Personen kommen. Längst findet – und dies ist ein offenes Geheimnis – musikalische Innovation nicht mehr ausschließlich in den Hochschulen statt, längst sind andere Konzertreihen, Ensembles, Wettbewerbe – oft grenzüberschreitenden Charakters – repräsentativer für „Neues“, als ihre bekannteren Pendants. Wenn sich außen die Strukturen ändern – und dies hat auch mit einem veränderten Bild eines historisch und akademisch-institutionell stark determinierten Komponistenbilds zu tun -, dann müssen sich die Strukturen auch bei eben jenen ändern, die die Macht dazu in den Händen haben; es sei denn, man geht das Risiko ein, dass die interessanten Köpfe sich ihr eigenes Sprachrohr, ihre eigenen Möglichkeiten erstreiten, die dann nichts mehr mit den historisch gewachsenen etwas zu haben oder zu tun haben wollen. Man muss sich jetzt, wo klar wird, dass es eine Krise gibt, die Frage stellen, ob diese Krise nicht „nur“ eine der Institutionen und ihrer Entscheidungsträger ist – ob nicht ein veränderter Blickwinkel das „Neue“ zu Tage fördert, was scheinbar so ersehnt wird. Vielleicht ist dieses „Neue“ aber ein anderes, als das, was in Fachzeitschriften auf Festivals und in Konzerten von den bekannten Rezensenten und Verantwortlichen oder von den Verwandten der Bekannten diskutiert wird. Allzu schnell könnte es passieren, dass Donaueschingen ein Treffpunkt wird, wo man sich nicht trifft um sich beunruhigen zu lassen, sondern wo man, wie jetzt, hilflos die Hände hebt und die Verantwortung den angeblich nicht-vorhandenen „interessanten“ Komponisten gibt. Eine Tendenz die zum unkritischen Selbstlauf werden muss, will man dieses „Unternehmen Neue Musik“ weiter bestehen lassen.

Es ist nicht zu spät, es ist an der Zeit aufzuwachen und sich umzuschauen, denn auch die Gefahr, dass jene, die dieses und andere Festivals, Ensembles und Institutionen fördern, die mangelnden Perspektiven zum Anlass eines Überdenkens ihrer Unterstützung nehmen, ist erfahrungsgemäß sehr wahrscheinlich.

Zur Zeit herrschen Zustände, die nur noch als Mehrpersonenkult bezeichnet werden können und teilweise nichts mehr mit demokratischen Strukturen gemein haben. Die Funktionsweise gleicht denen geschlossener Gesellschaften, wo bestimmte Personen Entscheidungen fällen, die nicht nach Substanz, sondern nach Bekanntschaftsgrad oder Meinungsähnlichkeit selektiert werden: Man redet von Vielfalt und Freiheit, debattiert über die verschiedenen Grade des „Modernen“, merkt aber nicht, dass die Gesprächspartner immer die gleichen sind. Gelegentlich, so scheint es, leistet man sich mal einen demokratischen Seitenblick, wohl wissend, dass das, was nicht dazugehört milde toleriert werden muss. Schön, dass wir unsere Systeme haben, von denen wir nicht müde werden zu behaupten, dass sie eigentlich keine sind, damit man ja den demokratischen Anstrich nicht verliert – dies ist der fade Beigeschmack, der zurückbleibt. 

Das Argument „Publikum“ ist längst keins mehr, denn es ist allzu deutlich, dass gerade die jüngere Generation (die es ja vor allem für die Musik der Zeit zu gewinnen gilt) nicht mehr Wert auf Namen legt, sondern auf spannende Ideen, außergewöhnliche und unkonventionelle Konzepte und Projekte, die den Rahmen dessen, was sich allzu lange als die Neue Musik definiert hat oftmals weit sprengen. Man sollte sich langsam darüber im klaren sein, dass eine bestimmte Art der Neuen Musik inzwischen Konvention ist – leider aber für Fachkreise, die nicht in der Lage sind sich dem zu öffnen, was woanders längst Offenheit erreicht hat. Das „Neue“, das „Andere“ kann noch keine ausgewogene Theorie, keine Strukturen haben wie das, was einmal neu war, sonst wäre es ein theoretisches Konstrukt oder eine milde Abwandlung des Vorhandenen. 

Unterstützen Sie uns, geben Sie dem „Anderen“ eine Chance – vielleicht sind ja auch sie „beunruhigt“.

Um die Chancengleichheit zu unterstützen und neue Tendenzen und Ansätze nicht völlig zu vergraben, ohne sie vorher gekannt zu haben, fordern wir deshalb von:

1. Konzertveranstaltern und Organisatoren renommierter Festivals:
Nicht sich zu beklagen, dass es keine interessanten junge Komponisten gibt, die etwas Neues versuchen würden.
An der Stelle von Bequemlichkeit muss die Mühe stehen, über „Ränder“ zu schauen, was gewisse Fähigkeiten und Mut zum Risiko voraussetzt. Unfähige oder bequeme Dramaturgen und Programmdirektoren haben dort, wo es gilt Unbekanntes und Unbequem-Neues aufzuspüren, nichts verloren. Das Ergebnis jahrelanger Bequemlichkeit und inzestuösen Verhaltens, nämlich dass bei großen Festivals und Konzertreihen immer wieder die gestandenen Vertreter der Neuen Musik und deren Schüler auftauchen, muss durchbrochen werden, will man nicht die Neue Musik in den repräsentativen Formen zu Grabe tragen.

2. Verlegern: Nicht nach dem Bekanntheits- oder Bekanntschaftsgrad der Komponisten die Stücke zu beurteilen und nur diese Werke zu verlegen. Die Substanz, die Qualität der Werke von jungen Komponisten sollte zum einen wieder mehr mit Fachkenntnis und zum anderen ohne persönlich-stilistische Scheuklappen beurteilt werden. Unbequemes und schwer zu Vermarktendes, wie z.B. Musik, die nicht den standardisierten Besetzungslisten entspricht oder andere Medien mit einbezieht, muss mehr Beachtung finden. Gerade große Verlage müssen sich der Gefahr bewusst sein, dass immer mehr junge und zum Teil nicht wenig renommierte Komponisten sich in Selbst- oder Kleinverlagen wesentlich besser aufgehoben fühlen. Wer nicht nach dem „Neuen“ sucht, muss sich darüber klar sein, dass sich das „Neue“ andere Plätze seiner Öffentlichkeit sucht. Bleibt diese Tendenz bestehen, kann man sicher damit rechnen, dass das jetzige „Geschäft“ der meisten Verlage nicht mehr lange eins sein wird.

3. Ensembles: Bei Aufträgen nicht nur junge Komponisten, die aus Kompositionsklassen der allseits bekannten Lehrer kommen zu berücksichtigen, sondern sich auf die Suche zu begeben. Wenn Liveelektronik, unbequeme Notation, „schwere“ Stücke, Zusatz- oder außereuropäische Instrumente und fehlende Empfehlungen zum Hemmschuh für Aufführungen werden, sollte das „Neu“ oder „Modern“, was viele Ensembles im Namen tragen einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Selbstverständlich ist es in vielen Fällen sowohl berechtigt als auch leichter, wenn „große“ Namen in den Programmheften auftauchen; das Problem ist nur: Wen sprechen diese Stücke an? Sprechen Altersdurchschnitt, Verwandtschaftsgrad oder Beruf der Konzertbesucher nicht allzu klar für das wahre „Interesse“ an der Musik, die allen zugänglich sein sollte?

4. Wettbewerben, Projektausschreibungen, Auftraggebern: Warum sollten Ausscheide und Jurysitzungen (wie dies in anderen Bereichen längst gängig ist) nicht auch öffentlich stattfinden? Es ist allzu bekannt, dass sich Juroren teilweise gewisse Partituren gar nicht mehr anschauen, geschweige denn „anhören“. Wo nach Schriftbild, Optik und Layout entschieden wird, wo nicht mehr „gehört“, sondern „gesehen“ wird, kann es nicht eigentlich um die Musik gehen. Wo (vor allem bei Projektanträgen) das „gut formulieren“ und „präsentieren“ im Vordergrund steht und nicht Ideen, die vielleicht unbequem daherkommen, da kann kein objektiver Spiegel des Zeitgenössischen entstehen. Das Produkt vieler Vorgaben sind allzu oft ideenlose, langweilige und uninteressante Musiken, weil jeder nur noch nach dem Geschmack der Juroren etwas „zusammenschreibt“. Für die Musik und die Ideen muss Ausgewogenheit auch in der Beurteilung gewährleistet sein. Deswegen sollten u.a. von Bewerbern auch Aufnahmen/ Partituren von anderen Stücken angefordert werden! (Vielleicht ja auch nur Aufnahmen…) Viele Komponisten sehen sich nicht mehr in der Lage unvoreingenommen zu arbeiten, wenn bei Ausschreibungen bestimmte Namen der Jury bekannt werden. Ja, viele Komponisten lehnen es inzwischen rundweg ab an Wettbewerben teilzunehmen, wo schon durch die Jurybesetzung und/oder das „Profil“ Stil, Mittel, Medien und Handwerk festgelegt sind.

Objektivität und Fachkenntnis sind Grundvoraussetzungen einer konstruktiven Kritik, einer Juryentscheidung, einer Auftragsvergabe: Wenn ablehnende Haltungen aus Befindlichkeiten, aus Statusgründen- oder Ängsten heraus zu Entscheidungen führen, dann kann nichts Neues entstehen.

Pèter Köszeghy/Thomas Chr. Heyde

Die Neue Musikzeitung nahm die Aktion zum Anlass im Februar 2002 ein Extra-Dossier anlässlich der Donaueschinger Musiktage zu drucken. Den darin enthaltenen Text mit dem Titel »Wege-Auswege-Umwege« von Thomas Christoph Heyde, der auch von Pèter Köszeghy unterzeichnet wurde, finden Sie hier.

nmz 2002/02, 51. Jahrgang, Februar

Webwatch
org org org

Sogenannte Toplevel-Domain-Endungen haben es offenbar mehr in sich als man denkt. Als die Seite der Donaueschingen-Kritiker sich www.donaueschingen.org betitelte, bekam man Probleme: die Stadt Donaueschingen drohte offenbar mit bösen Mitteln. Jetzt findet man die Donaueschinginger Auseinandersetzung unter http://www.leipzig-online.de/musik-zeit/donau/, allerdings immer noch mit dem alten Titelbild als donaueschingen.org. (Siehe zum theoretischen Komplex unser aktuelles Dossier). Geht man auf www.donaueschingen.org erscheint dagegen eine Fehlermeldung „The requested URL was not found on this server“. Tja, da vernichtet sich das Festival also doch von selbst im virtuellen Nichts – ganz listig von Thomas Heyde, der diese Domain auf seinen Namen hat registrieren lassen. Im Ernst: Eigentlich steht das Kürzel „org“ für „Organisation“, also durchaus für einen Verband oder Verbund, wäre also auch für die Donaueschingenkritik adäquat gewesen, zumal dieses Kürzel mit donaueschingen davor bisher offenbar keinen Donaueschinger Stadtverwalter hinter dem Ofer hervorgelockt hat.

Was Donaueschinger Offizielle von ihrer Stadt halten, erklärt ihr kurzer Hinweis unter www.donaueschingen.de: „Donaueschingen – davon haben Sie doch bestimmt schon gehört! Schwarzwald, Donauquelle, Fürstlich Fürstenbergisches Schloss, internationales Reitturnier, Musiktage….“ Und dort, wenn auch an unterster Stelle ist man des Lobes voll für die letztjährige Veranstaltung der Musiktage („vollauf gelungen“). Gut, Tourismus ist nun einmal keine Kulturkritik, aber die Verhinderung prominenter Selbstkritik mit bürokratischen Mitteln ist niveaulos. Donaueschingen, de oder org: „New Music not found.“

(Martin Hufner)

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.02.2002, Nr. 39
Rezension: Musik

Wie man bei Neuer Musik Wagner liebenlernt
Unterhaltung für Erwachsene und viel Disparates beim Stuttgarter Festival „Eclat“

[…] Zu einer öffentlichen Diskussion über „Glaub- und Fragwürdigkeit der etablierten Festivalkultur Neuer Musik“ hatte zuvor der künstlerische Leiter von „Eclat“, Hans-Peter Jahn, Tonsetzer, Veranstalter und Musikpublizisten geladen. Die von ihm moderierte Debatte sollte in „konstruktiver Konfrontation“ auf die nach den Donaueschinger Musiktagen 2001 von zwei jungen Komponisten im Internet erhobenen Vorwürfe eingehen. Thomas Christoph Heyde und Peter Köszeghy hatten verkrustete Strukturen angeprangert und altgedienten Festivalmachern Fähigkeit und Willen abgesprochen, wirklich neue Konzepte jüngerer Kollegen zu erkennen. Heydes und Köszeghys Protest richtet sich gegen einseitige Förderung einer „bestimmten Art von Neuer Musik“, die längst zur Konvention erstarrt sei, gegen undemokratischen „Mehrpersonenkult“ bequemer Programmdirektoren und Dramaturgen, gegen eine „geschlossene Gesellschaft“ derzeitiger Entscheidungsträger, die nur ihre Schüler und Epigonen zum Zug kommen ließen, gegen Pöstcheninhaber und Seilschaften, die ihre Pfründen hüteten wie Fafner seinen Hort. Als Folge solcher „inzestuösen“ Verhältnisse seien Innovationen kaum mehr im akademischen Bereich zu erwarten.

Derlei Anklagen lassen sich nicht einfach als beleidigte Reaktion abgewiesener Bewerber abtun. Daß sie nicht ganz unbegründet sind, zeigt das breite Echo, das Heydes und Köszeghys Aufruf im Internet und in Fachzeitschriften ausgelöst hat. Forderungen nach öffentlichen Jurysitzungen und Überwindung stilistischer Scheuklappen haben zahlreiche Unterstützer gefunden. Wie letztlich mehr Chancengleichheit bei Wettbewerben, Auftragsvergaben und Präsentationsforen zu erreichen wäre, konnte auch die Stuttgarter Diskussion, die in dreimonatigem Turnus fortgesetzt werden soll, nicht klären. […]

Mitteldeutsche Zeitung vom 08.06.2002
Ausgabe: Gesamtausgabe

Thomas C. Heyde Die Suche nach der Zukunft der Musik Leipziger Komponist setzt auf Synthese der Stile

Leipzig/MZ. Auf dem Podium hatte er sich gefühlt wie vor Gericht. „Da saßen acht Menschen“, sagt Thomas C. Heyde, „und waren gegen den Neunten. Der war ich.“ Er zieht an der Marlboro, ein Sonnenstrahl fällt auf das Klavier in der Leipziger Altbauwohnung. Es war um Musik gegangen in Stuttgart -um Neue Musik, die Zukunft von Festivals. „Ich habe keine komplette Theorie in der Tasche“, sagt Heyde, „nur ein paar Ideen, was man vielleicht anders machen könnte. Aber das wird einem natürlich alles um die Ohren gehauen.“
Überrascht hat es den Leipziger, Jahrgang 1973, dass da in Stuttgart von der angesehenen „Neuen Musikzeitung“ seinetwegen eine Diskussion angesetzt wurde, in der er dem Chef der Donaueschinger Musiktage gegenüber saß – eines der renommiertesten Festivals für Neue Musik. Was war geschehen? Nach den Donaueschinger Musiktagen im Herbst 2001 war durch alle Feuilletons die Meinung gehallt: Der Komponistennachwuchs hat heute nichts mehr zu sagen. Dieser Ansicht waren Thomas C. Heyde und Gleichgesinnte durchaus nicht – und setzten einen Brandbrief auf, in dem sie Pfeile des Unmuts in die musikalische Landschaft und vor allem auf deren Flaggschiff Donaueschingen abschossen. Große Festivals müssten sich die Frage stellen, „ob sie noch ein Sprachrohr neuer Tendenzen sein oder sich in Selbstgefälligkeit ergehen wollen.“
Heyde ergänzt: Festivals müssten sich wieder auf die Suche nach innovativen Komponisten begeben, „weil die oft in andere Bereiche abgewandert sind“. Als Leserbrief in der „Neuen Musikzeitung“ veröffentlicht löste das Schreiben Stürme der Zustimmung und Ablehnung aus – und bewies so zumindest, dass Diskussionen über die Zukunft nicht ausgestorben sind.
„Ein Werk“, sagt Thomas C. Heyde, „darf nicht nur mit einem selbst etwas zu tun haben – es muss Stellung nehmen zur Gesellschaft.“ Damit holt er, freilich nicht als einziger, ein Modell wieder hervor, von dem sich viele der heute etablierten Komponisten in den 70er Jahren verabschiedet haben. „Musik, die eine vehemente Kritik an der Gesellschaft formuliert, findet man längst nur noch in der Popmusik -im Independent, im Rap“, sagt Heyde. Dem Lockenkopf ist diese Musik vertraut, denn zu Studienzeiten hat er „mehr Zeit in Clubs als im Konzertsaal“ verbracht. Er hat in Leipzig klassische wie elektroakustische Komposition studiert. Und als Arbeitsgerät dient ihm der Computer ebenso wie das Klavier.
Heyde setzt auf die Synthese von klassischem und elektronischem Instrumentarium: In „Fernen“ (2000) verzaubert er den Klang dreier Blockflöten in eine rauschende Höhlensinfonie. Doch wo bleibt die gesellschaftliche Relevanz? Auch wenn Heyde in „Ich -ein Fremder“ (2001) die Realität mittels Alltagsgeräuschen und Stimmfragmenten spiegelt, scheint es, als suche er die Relevanz eher in der Präsentation. „Wir müssen junge Leute ansprechen“, glaubt er. „Die sind an Geräusche und an Lautstärke gewöhnt. Und wir müssen die Musik aus dem Konzertsaal befreien.“
Im letzten Jahr hat er mit Freunden zwei Räume in einer alten Baumwollspinnerei bespielt. „Da kann man auch mal aus dem Konzert rausgehen, Bier trinken, wenn man keine Lust mehr hat. Es ist doch albern, sich zwei Stunden lang still hinzusetzen.“ Freilich ist Heyde auch in traditionellen Konzerte vertreten, bei denen die ständige Anwesenheit der Zuhörer gern gesehen wird: Er arbeitet zusammen mit dem traditionsreichen „Forum Zeitgenössische Musik Leipzig“ und war Preisträger beim Kompositionswettbewerb der halleschen Händel-Festspiele 2001. Einmal hat auch Thomas Christoph Heyde zum Donaueschinger Kompositionswettbewerb eine Partitur eingereicht. „Immerhin“, sagt er, „ich war in der Endrunde“.

(Johannes Killyen)

LVZ/Leipziger-Volkszeitung, 14.02.2002
Ausgabe: Leipziger Volkszeitung-Stadtausgabe/Stadtausgabe / Ressort: Kultur
Leipziger KulturKöpfe: Thomas Christoph Heyde und die Krise der Neuen Musik

Nachwuchskomponist zählt die allmächtigen Festivals an

“Ich weiß selber nicht, woher ich die Kraft nehme”, entfährt es Thomas Christoph Heyde unvermittelt. “Es ist ja fast alles ehrenamtlich, oft sehr mühsam und gegen absurde Widerstände.” Doch der flüchtige Schatten auf seinem Gesicht bleibt nicht lange. Heyde rückt entschlossen seinen Stuhl zurecht, bekräftigt mit fester Stimme: “Ich kämpfe für eine Idee, eine Vision. Meine Sache ist konsequent – und wird sich durchsetzen!” Da hat unser Gespräch bereits zwei Stunden gedauert, und es ist noch lange nicht zu Ende.
Aber eines ist klar: Wenn es einer schafft, dann er. Oder einer der ähnlich tickt, ähnlich besessen ist, selbstbewusst, beharrlich. Heyde führt einen Vielfrontenkrieg: Der 28-jährige Leipziger ist Komponist, aber keiner, der sich von Auftrag zu Auftrag schreibt. Keiner, der Strukturen hinnimmt, sich geschmeidig einfügt. Ihm geht es um Inhalte. Darum haben er und Kollege Pèter Köszeghy sich einen starken Gegner ausgesucht: Die berühmten, bornierten, ritualisierten Donaueschinger Musikfestspiele am anderen Ende der Republik: “Wir beobachten seit langem die Festivalszene. 2001 war wieder ein desaströser Jahrgang. Und das Jammern ist groß, die Musik stecke in der Krise, es gebe nichts Neues, junge Komponisten hätten nichts mehr zu sagen.” Dem Endzwanziger schwillt der Kamm: “Es ist nicht so, dass es keine zeitrelevanten Inhalte mehr gibt, die als Kompositionen ihren Ausdruck finden. Doch kann man nicht erwarten, dass diese von Schülern oder Epigonen der entscheidungstragenden Personen kommen.” Und weiter: “Man muss die Frage stellen, ob diese Krise nicht eine der Institutionen und ihrer Entscheidungsträger ist.”
Starker Tobak: Da zählt ein Nachwuchskomponist die allmächtigen Festivals an. Dabei ist doch alles so schön: Man ist unter sich, begrüßt sich mit Küsschen, findet alles toll. Doch hat längst die ästhetische wie inhaltliche Inzucht das Ruder übernommen. Eine ganze Komponistengeneration hat von und mit diesen Festivals gut gelebt. Drum hat es im inneren Kreis der Macht und der Macher nie jemanden gestört. Und die breite Öffentlichkeit nimmt eh’ keinen Anteil mehr.
Das will Heyde ändern. Er und Köszeghy haben einen offenen Brief verfasst, ihn auf der Domaine www.donaueschingen.org ins Netz gestellt – und eine Lawine losgetreten. Denn sie sind nicht allein, formulierten, was vielen auf der Seele brennt. So vielen, dass auch Donaueschingen aufwacht. Allerdings nicht inhaltlich: Die Stadt (nicht das Festival, das sortiert seine Fäden aus sicherer Deckung) schickte Anwälte in den Ring, die die Seite dichtmachen ließen. Name geschützt, Inhalt egal. Punkt. Aber die Debatte lässt sich nicht abwürgen. Der Stein rollt – auch im Netz (siehe unten).
Nun ist es so eine Sache, über Festivals zu maulen. Da liegt der Verdacht nahe, da spucke einer Gift und Galle, weil er selbst nicht zum Kreis der Erwählten zählt. “Ich kann mich über mangelnde Aufführungsmöglichkeiten nicht beklagen”, lächelt Heyde fein. Drum gibt es für ihn nur eine Konsequenz: Machen. Das tut er seit langem – und erfolgreich. Er bündelt das Tun des Forums Zeitgenössischer Musik Leipzig, in dem auch Persönlichkeiten wie Gerd Schenker, Matthias Sannemüller, Axel Andre leitend mitwirken. Rund zehn Konzerte veranstaltet das Forum im Jahr. Und bei der Durchführung hilft ein eigenes Ensemble wirtschaften. Ab diesem Jahr richtet Heyde für den MDR die Konzertreihe “SenderMusik” aus, die auf die MDR-Klangkörper zurück greifen kann und einen Wettbewerb einbezieht. Auch bei diesen Projekten geht es um Inhalte, also um Publikum: “Wenn Kunst eine soziale Aufgabe hat, kann sie die nur wahrnehmen, wenn sie ein breites Publikum erreicht. Mit dem Rückzug vom Willen, ein Publikum zu erreichen, verkommen Inhalte zu allenfalls ästhetischen Betrachtungen.”
Wie Heyde neue Strukturen sieht, hat er im letzten Jahr mit dem Jubiläums-Herbstfestival 10 Jahre Musik-Zeit gezeigt: Sieben Konzerte mit sieben Ensembles und Solisten und sieben Uraufführungen. Nichts davon passte in Schubladen. Offenheit – das ist für Heyde eine der wichtigsten Vokabeln. Denn nur aus ihr kann Neues entstehen. Und sie bezieht sich nicht nur auf die Grenzen zwischen Musik, Tanz, Kunst, Theater, Elektronik, Installation, sondern auch auf die ohnehin oft nur behauptete Ambition. Heyde: “Zu lange haben die Macher musikalischer Moderne den großen Feind in der Popmusik gesehen, unterhaltsame, rezipierbare Musik als Feindbild aufgebaut.” Aus dieser Einschätzung sollte man indes nicht den Schluss ziehen, Heydes Musik schmeichle gefällig dem Ohr. Die existenzielle Suche nach Inhalten, sein Bedürfnis, sich einzumischen spannt jede Faser seines Schaffens. Heyde leidet an der Welt. Und das hört man seiner Musik an. Ernst ist sie und kantig – aber sie versteckt sich nicht hinter wohlfeilen Schulgebäuden. Es lohnt sich, sich darauf einzulassen.
Für die Spielzeit 2003/2004 plant Heyde sechs “Tage für Zeitgenössische Musik und Kunst Leipzig”. “Ziel ist es, Veranstaltungen Zeitgenössische Kunst in Leipzig zu bündeln.” Bildende Kunst, Literatur, Darstellende Kunst, Musik bekommen jeweils einen Schwerpunkt-Tag. Das Kulturamt der Stadt sitzt im Boot – und die allmächtigen Macher aus Donaueschingen und Witten wären gut beraten, dann einmal einen längeren Blick nach Leipzig zu werfen.

(Peter Korfmacher)

Stuttgarter Zeitung, 05.02.2002

Auch der Hund sucht schnüffelnd sich den Weg
Eine Podiumsdiskussion über Sinn und Zweck von Festivals für Neue Musik – Die Jungen schnappen nach den Leittieren

Hans-Peter Jahn, dem künstlerischen Leiter des Stuttgarter Eclat-Festivals, mag man mäkelnd ein Programm vorwerfen, das heuer weit gespannt, allen und keinem huldigend, sich bei Goethe versichert: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Jahn, der tote Komponisten (Xenakis), überaus frisch-lebendig wirkende uralte (Berio) und ältere etablierte (Kagel, Höller und Nunes) und viele mittelalte mittelmäßige ertönen lässt im Theaterhaus Wangen, sodass man sich manchmal die Frage stellt, ob das erfreut, erschüttert oder erhebt. Ihm, Hans-Peter Jahn, mag man aber eines nicht vorwerfen: dass sein Ohr dem Jetzt verschlossen ist. Hob er doch flugs zusätzlich ins Eclat-Programm – „Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan“ – eine Veranstaltung, die arrondierend die Großwetterlage „Festivalkultur neuer Musik“ beschreiben sollte, Titel: „Man ist einfach zu faul zu suchen“.

Nach den Donaueschinger Musiktagen hatte sich im vergangenen September ein Stürmchen im Fachblätterwald erhoben: hie blies die grimmig-kalte Presse „Langeweile, Lähmung“, dort regnete es Erwiderung von Arnim Köhler, dem für Donaueschingen verantwortlichen Südwestrundfunk-Redakteur: „Ahnungslosigkeit, Journalistenschmuh“ hieß es dann. Mit an diesen Turbulenzen beteiligten sich zwei Jungneutöner, Thomas Chr. Heyde und Peter Köszeghy, die im Internet auf ihrer Seite www.donauwelle.org für die etablierten Neue-Musik-Festivals „erstarrte Strukturen und Konzepte“ feststellten – sie meinten besonders Donaueschingen.

Ihre Kritik wurde entlarvt von Gisela Nauck, der Herausgeberin der Musikfachzeitschrift „Positionen“, die klarstellte, dass die beiden Jungs gar nicht im Schwarzwald hörend dabei gewesen seien, sondern nur eifrig den Pressespiegel studiert hätten. Und im Stillen vermutete Nauck wahrscheinlich wie andere, Heyde und Köszeghy seien nur beleidigt, dass man sie dort nicht aufführte. Reinhard Schulz schließlich, der bayerische Musikjournalist und Avantgardeexperte, hatte dem Gewoge und Gebrause in der „Neuen Musikzeitung“ ein Forum gegeben, zuletzt in dessen Februarausgabe mit einem mehrseitigen Dossier zum Thema.

Sie alle saßen nun in Stuttgart beieinander, von Jahn geladen und moderiert, dazu noch die Komponisten Nikolaus A. Huber, Sebastian Claren und Claus-Steffen Mahnkopf, der Berufsprovokateur der Avantgarderepublik und selbst ernannte Musikphilosoph fürs 21. Jahrhundert. Die Kämpen sollten miteinander reden – allein, keine fünfzig wollten’s hören. Inzwischen schien nämlich die Sonntagssonne, und in den gut drei Stunden Monologisieren und Vorbeigerede vertrieb sie auch Mahnkopfs Kulturpessimismus nicht, so ritterlich-angestrengt er mit Prinz-Eisenherz-Frisur gegen die Windmühlenflügel des Musikkapitalismus in Gestalt der Verlage, Veranstalter und Kulturpolitiker auch anrannte. Wir würden uns noch wundern, warnte er dräuend, ziehe erst in dieser Republik rezessionsbedingt ein eisiges Klima für die Kunst auf.

Das partielle Erlahmen kreativer Kräfte, wie man es an den Neue-Musik-Festivals feststelle, darauf bestanden Heyde und Köszeghi, sei natürlich auch eine Frage der alteingesessenen Festivalleiter, der Arrivierten, die kein Gespür für die Jungen und deren Konzepte besäßen. Argumentativ blieb dies aber nur eine nebelhafte Behauptung, so ungestüm wie unkonkret. Der für Donaueschingen gerüffelte Arnim Köhler wand sich ungelassen, dass es einen dauerte, und bezog sich auf die Tradition des Ortes, die mit den beiden Orchesterkonzerten eben ästhetisch schon eine Vorgabe sei. Und überhaupt die Komponisten, sie schickten ihm immer wieder nur ihre Bratschen- und Violinkonzerte – an deren mangelnder Fantasie könne er nicht drehen.

Huber, Jahrgang 1939, erprobter Achtundsechziger, fragte rhetorisch, ob an die Abschaffung der Festivals zu denken sei – und verneinte. Die Erfahrung lehre, dass eine Überführung der Finanzmittel und Ressourcen in den normalen Musikbetrieb bedeutete, sie versickern zu lassen: es wäre der Tod der neuen Musik. Aber die Qualität von Festivals könne man wie kompositorische Kreativität nicht erzwingen. Das sei eine permanente Suche, wie der Hund, der schnüffelnd sich den Weg sucht.

So ging es fort und fort, und am Ende waren alle genauso klug, wie sie von Anbeginn an hatten sein wollen: Wer’s nicht erschnüffelt, wird es nie erjagen.

(Götz Thieme)

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»Wege-Auswege-Umwege«, erschienen 02/2002 in Neue Musikzeitung
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